Oberschlesien, das seit der Hälfte des XIX Jahrhunderts fast ununterbrochen im sozialen Wandel steht, der von der Kirche aktiv begleitet wird, bildet für praktische Theologie ein interessantes Forschungsgebiet. Die Industrialisierung führte hier nicht zum Glaubensverlust im Volk, es hat sich vielmehr ein starkes Kirchenbewusstsein entwickelt.
Die Gründe dafür sind in sozialen Verhältnissen des Landes zu suchen. Die Kirche war dem Volk nahe, da sie Gottesdienst und Unterricht in seiner Muttersprache hielt. Die aus dem Volk stammende Priester waren unter den er-sten, die die Missverhältnisse der unterentwickelten Provinz (mangelhaftes Schulwesen, niedrigere als in anderen Provinzen Löhne der Arbeiter, miserable Lebensbedingungen) zu verbessern suchten. Es entwickelte sich der Typ des sozialangagierten Priesters, der bis in unsere Zeit hinein sehr verbreitet war. Es wäre zu erforschen, wie er seinen Dienst in der pastoralen und sozialen Hinsicht verstand und zu verbinden wusste, und dies theologisch zu bewerten.
Der Kulturkampf festigte die Bindung des Volkes an die Kirche. Er hatte zu Folge die Verbreitung — mittels Volksblätter und Vereinsarbeit — katholischer Ansichten und Vorstellungen über Kirche, Familie, Gesellschaft und Staat. Es stellt sich die Frage nach den bis heute erhaltenen bzw. weiterentwickelten Elementen dieser Anschauungen und den Bedingungen ihrer Beständigkeit.
Eine weitere Folge des Kulturkampfes war die Bildung der polnisch-katholischen Ideologie. Vom Standpunkt der praktischen Theologie von Interesse wären die religiösen Begründungen der nationalen Werte — der Muttersprache als Gabe Gottes und des Brauchtums, weil es den Glauben übermittelt — sowie ihre Verbindung mit kulturbedingten Begründungen — dem Naturrecht und der Wertschätzung der Volkskultur. Die polnisch-katholische Ideologie stellte hohe Forderungen an die Familié und trug zur dauerhaften, in heute spürbaren — Festigung ihrer Stellung in der Gesellschaft bei.
Ein weiteres Problem hängt mit der Entwicklung — seit den siebziger Jahren des XIX Jahrhunderts — der polnisch-katholischer Vereine und später auch einer polnisch-katholischen Gewerkschaft zusammen. Sie hatten sehr grossen Einfluss auf die polnische Gesellschaft bis in den II Weltkrieg hinein. Die Abschaffung dieser Vereine, sowie aller anderer kirchlicher Vereine führte zur Privatisation des Lebens und förderte eine passive Haltung der Laien. In dieser Situation ergibt sich eine Reihe von Fragen: Wie steht es mit dem aktuellen sozialen Bewusstsein in der Diözese? In welchem Verhältnis stehen die neuen religiösen Bewegungen zum Erbgut der Vergangenheit? In wie weit knüpft die gegenwärtige Verbindung von Nationalität und Katholizismus an die alte polnisch-katholische Ideologie an? Welche sind die neue Bereiche der Zusam-menarbeit von Geistlichen und Laien? In der komplizierten Geschichte des Landes mussten die Geistlichen oft Aufgaben übernehmen, die sonst die Laien verrichten. Wie hat es das Bewusstsein ihrer Rolle beeinflusst?
Die soziale Integration war in Oberschlesien stets ein schwieriges Problem. Die Kirche hat in diesem Bereich viel geleistet, sowohl durch den Ausbau der Pfarrorganisation, wie auch durch verschiedene pastorale Initiativen. Sie hat sich auch beteiligt an Lösungsversuchen sozialer und nationaler Probleme. Das erarbeitete Gut in diesem Bereich ist zu erforschen und theologisch zu bewer-ten. Diese Arbeit bedarf der Kombination verschiedener Methoden. Es sei auch hingewiesen auf eine wenig ausgenützte Quelle — nämlich die populäre religiöse Literatur und die Volksblätter, die Kenntnis über die im Volk verbreitete christliche Vorstellungen und Anschauungen liefern können.